Abenddämmerung im Morgenland
Warnung: Dieser Post kann verstörend sein. Im Allgemeinen äußere ich mich im Blog nicht zu politischen Themen, doch hat mich dieser Fall betroffen gemacht, weil wir a) einige Jahre in Dubai gelebt haben und b) es über ein Jahr gedauert hat, bis diese Nachricht mich erreicht hat.
Ich bin schockiert. Durch einen Facebook-Post bin ich auf die mutmaßlich schlimme Lage von Prinzessin Latifa gestoßen. Mutmaßlich deshalb, weil es offiziell dazu keine Stellungnahme gibt, außer dass sie „psychologische Hilfe“ brauche und daher nicht ernst zu nehmen sei. Bei allem, was ihr widerfahren ist, grenzt es an ein Wunder, dass sie überhaupt noch lebt. Hoffentlich.
Latifa ist eine Tochter des Herrschers von Dubai und versuchte zweimal zu fliehen. Es gibt ein Video (Englisch), dass die #freelatifa-Bewegung veröffentlicht hat, nachdem Latifas Fluchtversuch aus den Vereinigten Arabischen Emiraten im Jahr 2018 vereitelt wurde und sie gegen ihren Willen festgehalten wird.
Ich bin zutiefst schockiert über das, was Prinzessin Latifa in diesem Video offenbart.
Wie Ihr vielleicht wisst, lebten wir bis Mitte 2016 in Dubai. Und während man dort lebt, fliegt man wirklich unter dem Radar, wenn es um Nachrichten geht, denn das Internet und die Presse werden zensiert.
Doch auch die westliche Presse berichtete nur am Rande über diesen Fall. Meist in Boulevard-Magazinen für Royalty-Lovers oder hier in der WELT unter „Vermischtes“. Daher weiß ich gar nicht, ob alle meine Freunde in Dubai überhaupt von der Tortur von Prinzessin Latifa erfahren haben. Darüber hinaus könnte es gefährlich sein, darüber zu sprechen, während man in Dubai ist oder sogar während man Dubai besucht.
Meine Familie plante, nächstes Jahr nach Dubai zu fliegen. Aber in Anbetracht dessen werden wir unsere Pläne wohl ändern. Es ist so traurig zu erkennen, dass nicht nur der ganze Glitzer der Stadt fake ist, sondern anscheinend auch das moderne Bild des Herrschers.
Nichts ist, wie es scheint.
Latifa spricht über die Wahl- oder Entscheidungsfreiheit, die sie nicht hat – als Mitglied der Königsfamilie und als Frau in einer von Männern dominierten Gesellschaft sowie in der Diktatur ihres Vaters, der lediglich darauf bedacht sei, seinen Ruf zu wahren.
Zum ersten Mal versuchte Latifa zu fliehen, als sie 16 war, um ihrer Schwester Shamsa von außerhalb der Emirate helfen zu können.
Shamsa wurde 2000 auf offener Straße in Cambridge verschleppt, nachdem sie es schaffte, während der Sommerferien in England für 2 Monate unterzutauchen. Sie wird nach Latifas Angaben in Dubai gefangen gehalten und unter Drogen gesetzt. Wahrscheinlich bis heute.
Auch Latifas Fluchtversuch in 2002 wurde vereitelt. Sie wurde an der Grenze zu Oman gefangen genommen und dann auf dem Grundstück des Palastes ihrer Mutter in einer isolierten Zelle eingesperrt. Sie wurde jeden Tag gefoltert. Geschlagen und in Dunkelheit gefangen gehalten, mit weniger als dem Notwendigsten. Kein warmes Wasser, keine Kleidung zum Wechseln, keine Seife, keine Zahnbürste, keine medizinische Hilfe.
Diese Tortur dauerte 3,5 Jahre. Mit einer Woche dazwischen, in der sie in ihr Familienhaus zurückkehrte. Nur um zu erfahren, dass sie von ihrer Mutter oder Schwester keine Hilfe oder Mitgefühl erwarten konnte. Denn der Ruf der Familie steht nach ihren Worten über allem. Selbst über den Menschenrechten.
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. (Artikel 1)
Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person. (Artikel 3)
Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden. (Artikel 4)
Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. (Artikel 5)
Niemand darf willkürlich festgenommen, in Haft gehalten oder des Landes verwiesen werden. (Artikel 9)
Jeder hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand.
Des Weiteren darf kein Unterschied gemacht werden auf Grund der politischen, rechtlichen oder internationalen Stellung des Landes oder Gebiets, dem eine Person angehört. (Artikel 2)
Latifa spricht in ihrem Video die Entscheidungsfreiheit an – Freedom Of Choice. Wahlfreiheit. Ein grundlegendes Menschenrecht, das sie nicht hat. Dies wollte sie nicht länger hinnehmen. Nach ihrer „Frei“lassung war es Latifa bis heute nicht möglich, das Land auf legale Weise und auf eigenen Wunsch hin zu verlassen. Ihr Pass wurde ihr weggenommen.
Im Jahr 2018 startete sie mit Hilfe einer in Dubai ansässigen niederländischen Freundin einen riskanten Fluchtversuch übers Meer. Ziel war zunächst Indien. Doch in internationalem Gewässer wurde sie mit Waffengewalt gestoppt und zurück nach Dubai gebracht. Ihre Freundin und die Bootscrew konnte nach internationaler Veröffentlichung des Videos nach kurzer Zeit das Gefängnis verlassen.
Latifa selbst wurde nur einmal im Dezember 2018 in einem bizarren Schauspiel vorgeführt. Mary Robinson, ehemalige Hochkommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen, kam zu einem Besuch nach Dubai und bescheinigte, dass Latifa nun wieder in der „liebevollen Obhut ihrer Familie sei“. Es wurden Bilder veröffentlicht, die Prinzessin Latifa und Mary Robinson zeigen. Latifa augenscheinlich unter Drogen gesetzt.
Es wird berichtet, dass Mary Robinson für ihren Besuch in Dubai von der Stiefmutter Latifas, Prinzessin Haya, bezahlt wurde. Prinzessin Haya ist die offiziell zweite Frau des Herrschers von Dubai (inoffiziell wird von ca. 6 Ehefrauen gesprochen) und eine Freundin von Mary Robinson. Ich glaube, dass zu diesem Zeitpunkt entweder die wahren Fakten vor Haya verheimlicht wurden oder sie plante bereits ihre eigene Flucht.
Nachdem nun auch Prinzessin Haya im Juli 2019 über Deutschland nach England geflohen ist und die Scheidung sowie das Sorgerecht für ihre beiden Kinder beantragt hat, bekommt Latifas Fall neue Brisanz und Aufmerksamkeit.
Die Verletzung von Frauen- und Menschenrechten in so gravierender Weise ist spätestens seit der #Metoo-Kampagne um Harry Weinstein wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Ich glaube nicht, dass es noch ewig so weitergehen wird, dass die arabischen Frauen sich von den Männern den Mund verbieten lassen.
Doch es erfordert sehr viel Mut, sich in einem so skrupellosen System zu Wort zu melden oder ihm gar zu entfliehen. Diese Frauen hatten eine Wahl. Sie haben sich entscheiden, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um frei zu sein. Dafür, dass sie als Menschen anerkannt werden und sie fordern jetzt ihre Menschenrechte ein.
Auch Du hast die Wahl. Wegschauen oder handeln.
Wir stehen an einem Wendepunkt in der Geschichte. Als Feministin habe ich mich nie bezeichnet und gegen etwas kämpfen möchte ich nicht. Auf Umstände aufmerksam zu machen, die augenscheinlich im Argen liegen, halte ich hier jedoch für meine Pflicht.
Ich habe die freie Wahl. Ich kann entscheiden, ob ich Maurer oder Krankenschwester werden will. Ob ich nach Ägypten, Frankreich oder Indien reise. Oder wen ich heirate und mit wem ich spreche. Ich kann das Internet nutzen und entscheiden, welche Information ich konsumiere. Und ich habe die Freiheit, meine Meinung zu äußern.
Ich sage nicht, dass hier alles eitel Sonnenschein ist. Doch JA! Wir haben die Freiheit der Wahl. In JEDEM EINZIGEN MOMENT unseres Lebens. Deshalb ist es wichtig, eine gute Wahl zu treffen und dankbar für diese Gelegenheit zu sein.
Die Zeit vergeht schnell und wir sind nicht hier, um zu duckmäusern und zu kriechen. Wir sind hier, um aufzustehen. Nicht nur für uns selbst, sondern auch für unsere Mitmenschen.
Einer für alle und alle für einen.
Deshalb appelliere ich an Dich: Entscheide Dich!
Teile diesen Beitrag und dieses Video so oft wie möglich, um die Situation von Latifa ins Bewusstsein von möglichst vielen Menschen zu bringen und zu ihrer Befreiung beizutragen.
Danke.
Sabine
P.S.: Gerade heute hat die Tagesschau einen Artikel über Mary Robinson veröffentlicht, die als UN-Sondergesandte für den Klimawandel eingesetzt ist. Titel: „Werde wütend und werde aktiv“. Es geht um Greta Thunberg und Mary Robinson „ruft dazu auf, beim Kampf für den Klimaschutz durchaus mal über die Stränge zu schlagen.“ Das sollte sie auch beim Kampf für die Menschenrechte einfordern.
P.P.S.: Alle Informationen, die ich hier weitergebe, habe ich im Internet recherchiert. Trotzdem gilt auch hier die Unschuldsvermutung bis nicht eindeutig bewiesen werden konnte, dass Latifas Anschuldigungen gegen ihre Familie, ihren Vater, oder dessen Handlanger richtig sind. Wie immer gilt: Selber denken macht schlau.
P.P.P.S.: Foto von Prateek Kochar.